Zum Buch:
Der lange Ilja, der rothaarige Mischa und der kleine Sanja lernen sich in der fünften Klasse kennen, drei Außenseiter, die von ihren Schulkameraden regelmäßig verprügelt und gequält werden. Sie werden Freunde fürs Leben, einem Leben in der Sowjetunion zwischen Stalins Tod und Gorbatschows Perestrojka. Alle drei verbindet die Liebe zur Kunst: Mischa schreibt Gedichte, Sanja spielt Klavier, Ilja fotografiert. Gefördert wird diese Liebe durch den engagierten Lehrer Viktor Schengeli, der ihnen nicht nur im Unterricht, den er stets mit einem Gedicht beginnt, sondern auch auf langen Spaziergängen durch Moskau die russische Literatur und Kulturgeschichte nahebringt.
Die drei Protagonisten, ergänzt durch die drei Kindheitsfreundinnen Olga, Galja und Tamara, werden für den Leser zu Begleitern und Führern auf der Reise durch ein Buch, das in dreißig Kapiteln die Geschichte der russischen Dissidenz entfaltet, eine Geschichte, in der die großen Namen Brodsky, Solschenitzyn, Sacharow zwar auftauchen, aber keineswegs die Hauptrolle spielen. Ihre Werke jedoch werden in engen Gemeinschaftsküchen, Einzimmerwohnungen, in denen sich Familien drängeln, primitiven Datschen und kleinen Werkstätten vervielfältigt, gebunden und verbreitet von Menschen, die außerhalb der sowjetischen Gemeinschaft leben, immer mit einem Bein im Gefängnis stehen und sich gegen alle Widerstände durchschlagen. Für die drei männlichen Protagonisten, erzogen von Lehrern wie Schengeli oder von Menschen wie Anna Alexandrowna, Sanjas Großmutter, die ihnen einen Zugang zu einer anderen Kultur als die der kleinbürgerlichen und kleingeistigen Sowjetunion eröffnen, scheint der Weg in die Dissidenz fast zwangsläufig. Die drei Freundinnen Olga, Galja und Tamara dagegen, die sehr viel verschiedener sind als die drei Freunde, kommen auf anderen Wegen dazu: Olga, die aus einer stramm sowjetischen Generalsfamilie stammt, aus Liebe zu Ilja, Tamara durch ihre Wendung zum orthodoxen Christentum und Galja aus Treue zu den bewunderten Kindheitsfreundinnen.
Um diese sechs Protagonisten spinnt die Autorin ein dichtes Netz von nicht weniger faszinierenden Menschen und Geschichten, ganz ohne Rücksicht auf die Chronologie, so dass Personen, an deren Begräbnis man gerade noch teilgenommen haben, plötzlich höchst lebendig wieder auftauchen. Durch diesen Kunstgriff gelingt es der Autorin, das umfangreiche Personal ihres Romans immer wieder neu zu verbinden, Lebensgeschichten zu Ende zu erzählen und an anderer Stelle in neuen Konstellationen mit neuen Facetten wieder aufzugreifen. So entsteht in einem großartigen, fesselnden Roman ein buntes, lebendiges Panoramabild von 60 Jahren sowjetischer Geschichte, durch das man auch die Entwicklungen im heutigen Russland besser verstehen kann.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main