Zum Buch:
Nicht weniger als „Das Ende der Bücher“ prophezeit der technikbegeisterte französische Autor, Verleger und Buchliebhaber Octave Uzanne in seinem gleichnamigen Essay aus dem Jahre 1894 – und irrt damit so gewaltig, wie er mit einer zweiten Vision geradezu seherische Fähigkeiten an den Tag legt: Mit lockeren Strichen skizziert Uzanne die Zukunft der Literatur und erfindet quasi im Vorbeigehen das, was erst über ein Jahrhundert später einen Namen bekommen sollte: das Hörbuch.
Ausgangspunkt dieses Gedankenspiels: ein Londoner Club an einem Freitagabend des Jahres 1892. Hier versammelt sich – nach einem gemeinsam besuchten Vortrag des britischen Physikers William Thomson über das Ende der Menschheit – ein illustres Trüppchen von acht Gelehrten. Bei reichlich Champagner greift man den Faden auf und spinnt ihn reihum weiter: Wie sieht die Zukunft der eigenen Profession aus, wie die Welt in einhundert Jahren? Der Vegetarier und Naturgelehrte träumt vom Ende der Schlachthäuser und von Nahrung aus dem Labor in Form von Pulvern oder Kügelchen, der Kunstkenner sieht die Farbfotografie in die Fußstapfen der Malerei treten, der Bücherfreund schließlich reüssiert mit seinem Entwurf vom Schicksal der Bücher: Das gedruckte Wort – ohnehin eine Zumutung für Hirn, Auge und den Körper insgesamt, man denke nur an das umständliche Blättern und Falten einer Zeitung im Format der Times – sterbe aus, es werde abgelöst von der gerade in den Kinderschuhen steckenden Phonographie, Phonotheken ersetzten Bibliotheken und Büchereien, in den Regalen Aufnahmezylinder aus Wachs anstelle von Büchern aus Papier.
Was den Text auch – oder besser: gerade – nach weit über einhundert Jahren so lesenswert macht: Uzanne antizipiert nicht nur das Hörbuch als Idee, sondern auch zahlreiche technische Details, sieht mobile „Hörschläuche“ voraus und die Miniaturisierung von Wachswalzen, Abspielgeräten und Batterien: „Ob zu Hause, auf der Promenade oder bei Spaziergängen durch sehenswerte und malerische Orte: Die glücklichen Hörer werden das unbeschreibliche Vergnügen haben, Ertüchtigung und Bildung vereinen zu können, gleichzeitig Muskeln und Geist zu nähren, denn natürlich gäbe es Phonographen im Taschenformat, die bei Wanderungen in den Alpen oder durch die Canyons des Colorado River von Nutzen sind.“ – Dass trotz aller tollkühnen Weitsicht Uzannes die Schere zwischen treffsicherer Vision und unerfüllter Phantasie an mancher Stelle weit auseinander klafft, macht einen nicht unerheblichen Reiz der Lektüre aus.
Wie überaus schade es gewesen wäre, hätte Uzanne mit seiner Prophezeiung vom Ende des gedruckten Buchs recht behalten, das beweist der kleine und vor allem blutjunge Berliner Verlag Favoritenpresse mit diesem liebevoll gestalteten und hochwertig ausgestatteten Bändchen. Die in London lebende Künstlerin Steph von Reiswitz bereichert Uzannes wiederentdeckten und hier erstmals auf Deutsch vorliegenden Essay mit hinreißenden Illustrationen in holzschnittartigem Schwarzweiß, ein ebenso geistreiches wie erhellendes Nachwort von Literatur- und Medienexperte Jochen Hörisch rundet das optische und haptische Lesevergnügen auch inhaltlich ab.
Der Argon-Verlag veröffentlicht – was läge näher? – Das Ende der Bücher parallel als Hörbuch (2 CDs, ISBN 978-3-8398-1891-6, 15 Euro). „Autoren ohne Gespür für den schönen Vortrag und die dafür nötige Satzmelodik werden die Hilfe von Auftragsrednern und Schauspielern in Anspruch nehmen müssen“, weiß schon Uzanne. Tote ebenso, ließe sich ergänzen. Im vorliegenden Falle ist das mit dem Schauspieler, Synchronsprecher und gelernten Buchdrucker (!) Friedhelm Ptok aufs Trefflichste gelungen.
Marco Möller, Buchladen Land in Sicht, Frankfurt