Zum Buch:
Die Heimat – was auch immer darunter verstanden wird – zu verlassen, kann ein Schritt in die Freiheit sein oder in die Verstoßung. Aber aus welchem Grund auch immer jemand seine Familie und den Herkunftsort verlassen hat, er ist in die Fremde gegangen, und fremd wird er bleiben, selbst wenn er einen Weg zurückfindet. Denn es ist nicht derselbe Mensch, der heimkehrt, wie auch der Ort und die Menschen nicht die blieben, die man verlassen hatte.
Auswanderer, Exilanten, Abenteurer gibt es in vielen Familien. Man erzählt sich Geschichten über sie, hortet alte Fotos, bewahrt Briefe. Aber häufig bleibt zu wenig von ihnen, um ihrer Lebenswirklichkeit nahezukommen. Viel wird vergessen, manches verklärt, einiges verschwiegen – aber das meiste bleibt im Dunkeln. Der Schriftsteller und Lyriker Vicente Valero erzählt in Die Fremden von vier Männern aus seiner Familie. Drei von ihnen verließen Ibiza, wo Valeros Familie lebte und auch er aufgewachsen ist, aus unterschiedlichen Gründen, ein vierter tauchte nach vierzig Jahren spurloser Abwesenheit wieder im Leben seines Vaters auf. Nur an diesen hat Valero, der 1963 geboren wurde, vage Erinnerungen aus seiner Kindheit, und auch unter den Älteren seiner Familie gibt es nur noch wenige Menschen, die persönliche Erinnerungen haben.
Valeros Großvater, Leutnant Marí Juan, Kind wohlhabender Bauern, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts schon früh von der Insel auf eine Schule nach Valencia geschickt und kehrt von da an immer nur für kurze Besuche zurück. Er wird Flugzeugingenieur, nimmt am Spanisch-Afrikanischen Krieg teil und kommt todkrank aus Afrika zum Sterben nach Hause. Onkel Alberto, der Halbruder des Vaters, taucht nach vierzig Jahren, die er als professioneller Schachspieler auf der ganzen Welt herumgereist war, zur Verwunderung der Familie plötzlich wieder auf Ibiza auf. Valeros Großonkel, der Künstler Carlos Cervera brennt im Alter von sechzehn Jahren mit einer Tanztruppe durch. Aus jedem Ort, an dem er jemals gastierte, schickte er eine Ansichtskarte an seine Schwester – auf die es nie eine Antwort gab. Ramón Chico, Major in der republikanischen Armee, Theosoph, Yoga-Praktiker und Vegetarier, muss Spanien nach dem für die Republikaner verlorenen Bürgerkrieg verlassen und geht ins Exil nach Frankreich, wo er, ohne je heimkehren zu können, stirbt.
Ob der Ich-Erzähler wirklich der Autor ist, ob sich das, was da erzählt wird, wirklich so zugetragen hat, bleibt in der Schwebe. Im Laufe der Lektüre entsteht das Bild einer spanischen Familie über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg. Die Faszination, die der Text ausübt, gilt nicht nur den ungewöhnlichen Lebenswegen der Männer, sie entsteht mehr noch aus der Art und Weise des Erzählens. Die Kürze der einzelnen Erzählungen steht in einem seltsamen Widerspruch zu dem ruhigen Atem, mit dem der Autor spricht. In langen Abschnitten, unterbrochen von Reflexionen über das Erinnern, in Berichten über eigene Nachforschungen und Reisen entsteht eine große atmosphärische Dichte, die schon nach kurzer Lektüre durch die Genauigkeit der Bilder und der Präzision der Worte einen zunehmenden Sog ausübt – woran die elegante Übersetzung von Peter Kultzen ihren Anteil hat. Mit gerade einmal 128 Seiten hat Vicente Valero mit Die Fremden ein dünnes Buch geschrieben. Aber was für eine Fülle verbirgt sich darin!
Ruth Roebke, Bochum