Zum Buch:
Was macht die alten Mythen so unwiderstehlich und faszinierend für uns heutige Lesende, dass sie immer wieder neu erzählt werden? Wahrscheinlich, weil sie – in ihrer archaischen Wucht, ihrer Grausamkeit und auch in ihrer Unverständlichkeit – von uns erzählen: von Archetypen unseres heutigen Handelns und davon, dass der Mantel der aufgeklärten Zivilisation, den wir über unsere Begierden gelegt haben, sehr fadenscheinig ist. Irene Vallejo, die mit ihrem Sachbuchbestseller Papyrus weltweit ein großes Publikum erreichte, hat in ihrem im Original 2015 erschienenen Buch Elyssa über die Königin von Karthago (bekannter unter ihrem römischen Namen Dido) und den Trojanischen Helden Aeneas eine neue Variation der alten Geschichte geschrieben.
Der Rahmen der Handlung ist relativ schnell erzählt: Aeneas, Sohn des Anchises und der Aphrodite, ist, nach Hektor, der zweigrößte Held von Troja. Er konnte, mit seinem alten Vater auf dem Rücken, seinem kleinen Sohn an der Hand und einigen seiner Männer aus dem brennenden Troja fliehen. Nach einem Sturm auf dem Meer stranden sie an der afrikanischen Küste vor Karthago. Herrscherin über die noch junge Stadt ist Elyssa, eine tyrische Prinzessin, deren Mann von ihrem Bruder getötet wurde. Auch sie musste fliehen und ist mit einigen Männern und ihrer Halbschwester Anna an der afrikanischen Küste gelandet. Dort hat sie durch eine List von dem örtlichen Nomadenherrscher Iarbas mehr Land erhalten, als er zu geben bereit war, und die Stadt Karthago gründet. Iarbas hat sie sich damit zum Feind gemacht, und auch ihre Feldherren schützen sie nur, weil jeder von ihnen sie besitzen und durch sie den Thron besteigen will. Nach den Jahren der Kriege und der Gewalt sehnen sich Aeneas und Elyssa nach Frieden. Elyssa bietet Aeneas an, mit ihr Karthago zu einer Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit zu machen. Langsam verlieben die beiden sich ineinander – wobei natürlich Gott Eros seine Finger im Spiel hat. Aber weder Elyssas Leute noch Aeneas’ Männer haben das gleiche Ziel. Aeneas ist im Zwiespalt gefangen zwischen seiner Liebe und einer mysteriösen göttlichen Prophezeiung. Und Elyssa kann nicht von ihrem, nur mit Gewalt durchsetzbaren Machtanspruch lassen …
Zum engen Kreis der handelnden Personen zählt noch Anna, Elyssas Halbschwester. Zwölf Jahre alt, mit einem dunklen Muttermal im Gesicht, wird sie von ihren Leuten als “Bastard des Königs” bezeichnet, und, da sie von ihrer Mutter den Umgang mit Kräutern gelernt hat, als “Hexe” gefürchtet. Eros, der Gott der begehrlichen Liebe, ist gewohnt, das Spiel zu bestimmen, muss aber zusehen, wie die unberechenbaren Sterblichen ihrem eigenen Willen folgen. Und in Einschüben folgen wir – Jahrhunderte später – Vergil, Roms bekanntesten Dichter, durch die ihm verhasste Stadt. Er ist vom Alleinherrscher Augustus dazu erpresst worden, Aeneas, auf den sich die römischen Kaiser als Gründer der Stadt berufen, in einem Triumphgedicht zum Helden zu machen.
Irene Vallejo erzählt Elyssas Geschichte auf sehr komplexe Weise, dabei aber temporeich und fesselnd, ohne dass es zu platter Modernisierung oder sprachlicher Verflachung kommt. Jede handelnde Person erzählt aus ihrer unmittelbaren Situation heraus ihre Version des Geschehens. Außer Vergil, der von einen allwissenden Erzähler erzählt wird. Die Geschichte folgt dem alten Mythos, gibt den Menschen aber mehr Spielraum. Sie sind keine Marionetten der Götter, die nach deren Willen durch ihr Schicksal gehetzt werden, sondern sie sind Menschen aus Fleisch und Blut – vielschichtige Charaktere mit verletzten Seelen und starken Emotionen, die ihre Handlungen selbst bestimmen, auch wenn sie unter den Folgen leiden. Die klassische Philologin Irene Vallejo hat mit Elyssa, Königin von Karthago im allerbesten Sinne spannende, kluge Unterhaltungsliteratur geschrieben.
Ruth Roebke, Frankfurt a. M.