Zum Buch:
Am späten Nachmittag des 13. Oktober 1761 erhängte sich in Toulouse der Jurastudent Marc-Antoine Calas, Sohn des erfolgreichen hugenottischen Kaufmanns Jean Calas, im Hof des elterlichen Hauses. Marc-Antoine litt unter schweren Depressionen. Unter anderem auch deshalb, weil er als Protestant nicht zur Abschlussprüfung zugelassen wurde und er somit seine Karriere als vorzeitig beendet ansah. Als der Vater, 68 Jahre alt und gichtgeplagt, seinen Sohn erhängt fand, schickte er gleich nach dem Wundarzt, der nur noch den Tod des 28jährigen feststellen konnte. Der Gendarmerie erklärte Calas später, er hätte seinen Sohn am Boden liegend aufgefunden, allem Anschein nach erwürgt. Nach französischem Gesetz wurden Selbstmörder nackt an den Fersen durch die Straßen geschleift. Das wollte Calas seinem geliebten Sohn ersparen.
Zu dieser Zeit galt Toulouse als Zentrum des Antiprotestantismus in Frankreich. Ungeachtet der körperlichen Schwäche des alten Mannes wurden bald schon Stimmen laut, der Vater hätte den eigenen Sohn getötet, mit den eigenen Händen erwürgt, aus dem einfachen Grund, weil dieser zum Katholizismus übertreten wollte. Calas wurde daraufhin verhaftet und mitsamt der Familie, der man eine Mitschuld anlastete, für ein halbes Jahr eingekerkert und streng verhört.
Am 10. März 1762 erfolgte dann das Urteil. Jean Calas wurde gerädert und anschließend verbrannt. Die Witwe Calas verlor all ihr Hab und Gut, die beiden Töchter steckte man in ein katholisches Kloster. Marc-Antoine, der angeblich ermordete Sohn, wurde hingegen zum Märtyrer verklärt und mit allem erdenklichen Pomp zu Grabe getragen.
Voltaire las die offizielle Version des Falles in der Zeitung. Die offizielle Version. Er war bestürzt darüber, daß ein Vater bereit war, den eigenen Sohn aus religiösem Fanatismus zu ermorden. Doch als er die wahren Hintergründe erkannt hatte, sah er sich gezwungen zu handeln und strengte in Eigenfinanzierung die Wiederaufnahme des Prozesses an und verfolgte ihn mit großer persönlicher Betroffenheit. Zwei Jahre später wurde Jean Calas posthum von jeglicher Schuld freigesprochen.
»Das ist ein schöner Moment in den Jahrbüchern der Vernunft, die nicht zu den dicksten Büchern zählen, die wir haben.«
Anhand von fiktiven Briefen beschreibt Voltaire die Affäre Calas zunächst aus der Sicht derjenigen Familienmitglieder, die an dem fraglichen Abend zugegen waren, um, wie er sagt, diesen eine Stimme zu verleihen und um den Leser über den eigentlichen Prozessverlauf, der damals unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, zu informieren. Das liest sich ungemein spannend.
Danach folgen zwei brillante Essays, in denen er sich ausgiebig mit Fragen über Fanatismus und Toleranz beschäftigt, und die auf eindringliche Weise untermauern, wie sehr der Aufklärer Voltaire seiner Zeit voraus war.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln