Zum Buch:
„Wahrscheinlich ist dir schon aufgefallen, dass dies hier nur dann nach einer Geschichte zu klingen beginnt, wenn ich etwas wiederhole, das mir Vater erzählt hat…“, so fasst die Protagonistin und Stimme des Romans Pippins Tochters Taschentuch ihren Erzählton selbst zusammen. Der ganze Text ist eine Rede an ihre Schwester, in der sich Erinnerungen und Gegenwart ihres Familienlebens vermischen. Die Protagonistin Lucy Seifert merkt in der Zeit, in der sie ihrer Schwester schreibt, selbst, wie ihre Affäre so unaufgeregt wie unaufhaltsam die Struktur ihrer Ehe unterwandert. Diese Schilderungen werden mit Szenen aus der frühen Zeit der Ehe ihrer Eltern parallelisiert. Während Lucy mittlerweile in den Staaten lebt, beginnt die Geschichte ihrer Eltern in den 20ern in Kitzingen am Main. Ihre Mutter gilt als wunderschön, ein Freigeist, eine Sängerin, während ihr Vater als Lehrer eine finanziell gute Partie ist. Die Ehe hält, nachdem die Affäre der Mutter mit einem jüdischen Musiker ans Licht kommt, vor allem durch den gesellschaftlichen Druck und das plötzliche Desinteresse des Liebhabers. Doch nicht nur der Vertrauensbruch, auch die Annäherung an den Faschismus prägen ab diesem Punkt das Verhältnis der jungen Eltern.
Jahre später ist Lucy davon überzeugt: ihre Schwester Andrea ist nicht das leibliche Kind ihres Vaters, und gerade deswegen muss sie nun die Geschichte des Ehebruchs der Mutter viel mehr als Liebesgeschichte begreifen.
Zwei Dinge sind an diesem Roman so auffallend gut gelungen, dass sie nicht unerwähnt bleiben dürfen. Zum einen das Ineinandergreifen der beiden Zeitebenen, der Wechsel zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Dies geschieht nicht, wie sonst üblich, mit harten Schnitten und Szenenwechseln, vielmehr entspinnt sich ein Netz, ein wechselseitiger Einfluss zwischen beidem. Das liegt nicht zuletzt – und das bringt mich zu meinem zweiten Punkt – an der Ambivalenz und der psychologischen Schärfe, die Lucy als Erzählerin erhält. Ihre Stimme ist weit davon entfernt, eine neutrale zu sein. Dessen ist sie sich selbst sehr bewusst und unternimmt auch keinerlei Anstrengungen, das zu verbergen. Der Text gewinnt einen großen Teil seiner Dynamik durch die in der Erzählstruktur implizite, aufgeladene Beziehung der Schwestern.
Waldrops psychologische Präzision und künstlerischer Ausdruck kommen in der Übersetzung durch Ann Cotten wunderbar zur Geltung. Das amerikanisch-deutsche (Spannungs-) Verhältnis, das nicht nur beide Autorinnen verbindet, sondern auch dem Roman innewohnt, schlägt sich auch sprachlich in einer Synergie kurzer, schlaghafter Sätze innerhalb einer im höchsten Maße verschachtelten und umschweifenden Erzählweise nieder.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt