Zum Buch:
Als der 19jährige Ali erwacht, liegt er unter einem Baum – wie ist er dahingekommen? Er hat Schmerzen, weiß aber nicht genau, wo. Er weiß auch nicht, ob er verletzt ist, spürt seinen Körper nicht, sieht plötzlich eine Grube vor sich, Menschen – eine Beerdigung. Ist es seine eigene? Ist er tot? Langsam wird deutlich, dass es Erinnerungsbilder sind, die er da sieht: Bilder der Beerdigung seines älteren Bruders, der als Soldat im syrischen Bürgerkrieg von einer Bombe buchstäblich zerrissen wurde und bei dessen Begräbnis die Behörden jede Klage verboten und Jubel über den Heldentod erzwungen haben. Als die Vision verblasst, versucht er festzustellen, wo er verwundet ist, aber nur eine Ferse scheint zu fehlen …
Im ständigen Wechsel zwischen den aktuellen Versuchen des sterbenden jungen Mannes, seinen Zustand und seine Lage zu erfassen, und seinen Fieberträumen und Delirien entstehen Erinnerungsbilder: Bilder seiner Mutter und ihrer ständigen Arbeit in ihrem kleinen Garten, der rätselhaften Humairuna, die ihn früh ihren mystischen Glauben lehrte, vor allem den an die Kraft der Bäume, der Scheich, der ihn religiös unterweisen will, und vor allem sein Baum, diese uralte Eiche, in der er das Baumhaus gebaut hat, von dem aus er die Welt betrachtet und zu verstehen versucht hat, der Abhang, von dem er so gerne herabfliegen wollte.
Wo der Wind wohnt ist ein Roman von verstörender Schönheit, der in poetischen Bildern die reiche Tradition der alawitischen Kultur, vor allem ihre starke Verbundenheit mit der Natur, sichtbar macht, zugleich aber – fast schon beiläufig – auf die Auswirkungen des Krieges und der Brutalität derjenigen, die ihn führen, auf den Alltag noch im letzten Winkel Syriens verweist. Samar Yazbek führt uns dank der herzzerreißenden Klarheit ihrer Bilder und ihrer Sprache eindrucksvoll und unvergesslich vor Augen, zu welch unglaublichem Verlust an Kultur, Natur, Menschlichkeit und Schönheit (nicht nur) dieser Krieg geführt hat. Ein Leseerlebnis, das ich nur jedem ans Herz legen kann.
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.