Zum Buch:
Dreiundzwanzig Texte von unterschiedlicher Länge sind in „Weiter weg“ versammelt. Die Themen umkreisen zumeist ähnliche Felder: Franzens Liebe zur Literatur, zu Autoren und Büchern, die ihn geprägt haben. Sein Interesse an Vögeln und sein Engagement für ihren Schutz. Das eigene Schreiben, die Veränderung der gesellschaftlichen Gepflogenheiten durch moderne Medien und immer wieder David Foster Wallace, den Freund und Schriftsteller, der sich das Leben nahm.
Er beschreibt den – nicht ungefährlichen – Kampf von Vogelschützern gegen die massenhafte Jagd auf Singvögel im Mittelmeerraum, er schreibt über Frank Wedekinds Stück „Frühlingserwachen“, das als Musical am Broadway aufgeführt wird. Er führt ein (hinreißend absurdes) Interview mit dem Staat New York, schreibt über autobiographische Literatur, beschreibt den Wandel des Privaten und der menschlichen Beziehungen durch Mobiltelefone. Er schildert das beeindruckende Wirtschaftswachstum in China und die damit einher gehende Umweltzerstörung.
Keines der mehr oder weniger kurzen Stücke in diesem Buch ist ohne einen direkten Bezug zu ihm, und wenn mich eins besonders beeindruckt hat, dann seine dialektische Sichtweise, im Schlechten das Gute und im Guten das Schlechte wahrzunehmen und sich eindeutigen Positionen zu verweigern. So heißt es am Ende von „Schmerz bringt dich nicht um“, einer Abschlussrede vor College-Absolventen: „Und immer, wenn ich dem Feind begegnete, stieß ich auf Menschen, die ich wirklich mögen (…) konnte. Urkomische, generöse, brillante schwule Mitarbeiter der Republikaner. Furchtlose, wundertätige junge chinesische Naturliebhaber. Einen waffenvernarrten italienischen Juristen mit sehr sanftem Blick, der den Tierrechtler Peter Singer zitierte. In jedem Fall fiel mir die pauschale Antipathie, die ich so leicht entwickelte hatte, nicht mehr so leicht.“
Am großartigsten ist der titelgebende Essay, eine Fahrt zu der menschenleeren, abgelegenen chilenischen Insel Más Afuera. Er will den „Más Afuera-Schlüpfer“, eine nur dort beheimatete Vogelart, beobachten und einen Teil der Asche von John Foster Wallace verstreuen. Auf einer Wanderung kommt an er an eine atemberaubend steile Küste, steht mit dem Rücken zum Fels, kann nicht mehr vor und nicht zurück und beginnt von Wallace‘ letzten Jahren zu erzählen. Von dessen sich verschlimmernder Krankheit, die ihn zu dem gleichen Lebensgefühl geführt hat, bis er es nicht mehr aushalten konnte. Und die ganze Zeit steht der Leser mit auf diesem schmalen Felsstück, über dem tief unten brausenden Meer, gleichsam ohne zu atmen.
Natürlich erzählt jedes geschriebene Wort eines Schriftstellers auch immer etwas über ihn selbst. Aber abgesehen von Autobiographien (und bekanntlich auch da nicht immer) gibt es kaum eine literarische Form, die uns tiefer in Erlebnisse, Gedanken und Empfindungen eines Autors Einblick gibt, als der Essay. Deshalb ist auch die einzige Einschränkung für eine ansonsten uneingeschränkte Leseempfehlung: Man sollte Essays mögen und neugierig auf Jonathan Franzen sein.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx co, Frankfurt