Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Scheuer, Norbert

Die Sprache der Vögel

Untertitel
Roman
Beschreibung

Paul Arimond, 24 Jahre alt, ist Bundeswehrsoldat im Afghanistan-Einsatz, beobachtet Vögel und wird langsam verrückt. Seine Freundin, Pferdewirtin in der Eifel, verliebt sich in den Tierarzt, seine Mutter hat einen neuen Liebhaber, seine alte Lehrerin stirbt an Krebs und sein bester Freund an den Folgen eines Autounfalls, den Paul zwar nicht verschuldet, bei dem er aber am Steuer gesessen hat. Dazwischen lange Beschreibungen von allem, was Federn hat, und Aquarelle diverser Vögel. Muss man sich das wirklich antun? Die Antwort ist klar: Ja. Unbedingt.
(ausführliche Besprechung unten)

Auf der Shortlist Belletristik des Leipziger Buchpreises 2015

Verlag
Verlag C.H.Beck, 2015
Format
Gebunden
Seiten
240 Seiten
ISBN/EAN
9783406677458
Preis
19,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Norbert Scheuer, 1951 in der Eifel geboren, studierte Physikalische Technik und Philosophie. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet.

Zum Buch:

„Die Sprache der Vögel“ ist ein Roman, der sich wunderbar liest, aber kaum so beschreiben lässt, dass sein unvergleichlicher Reiz deutlich wird. Wer „Überm Rauschen“ gelesen hat, wird verstehen, was ich meine. Denn das, was Norbert Scheuer erzählt, setzt sich erst im Kopf des Lesers zu Geschichten zusammen, hier wieder vermittelt durch eins der vier Elemente und deren Bewohner. Waren es in „Überm Rauschen“ das Wasser und die Fische, sind es hier die Luft und die Vögel. Der Traum vom Vogelflug, der Wunsch, sich – mit oder ohne Hilfsmittel – in die Lüfte zu schwingen, prägt die Familie des Protagonisten: vom Urgroßvater Ambrosius, den seine ornithologischen Studien von der Eifel bis nach Afghanistan führten, über den Vater, einen begabten Hochspringer, der schließlich den finalen Sprung von der Selbstmörderbrücke wagt, bis zu Paul, der sich zu den unzähligen Vögeln an dem so unerreichbaren wie verlockenden türkisfarbenen See außerhalb seines von Natodraht umzäunten Camps am Hindukusch träumt.

Ein poetischer Roman über Träume und ihr Scheitern also?

Ja und nein. Denn „Die Sprache der Vögel“ ist auch und vor allem ein Roman über den Afghanistan-Krieg. Man kann sogar mit Fug und Recht behaupten: es ist DER Roman über den Afghanistan-Krieg, der vom Feuilleton seit langem eingefordert wird. Und doch spielt all das, was man landläufig mit einem „Kriegsroman“ verbindet, hier praktisch keine Rolle. Norbert Scheuer ist einer der stillsten Autoren der Gegenwart, und Schlachtendonner ist von ihm genauso wenig zu erwarten wie Heldengeschichten. Vielmehr beschreibt er die Absurdität und Vergeblichkeit dieses Krieges anhand der unendlichen Langeweile des Lebens im Camp, eines Lebens im Käfig sozusagen, in einem umgekehrten Gefängnis, das nicht dem Schutz der Außenwelt vor den Insassen, sondern der Insassen vor der Außenwelt dient. In diesem Käfig gibt es keine Helden, keine Krieger, die am Hindukusch Deutschland verteidigen, und auch keine friedliebenden Helfer, die Brunnen und Mädchenschulen bauen wollen. Paul Arimonds Kameraden sind in Afghanistan, weil sie wie viele junge Männer anderswo auch an ihrer Karriere basteln, Geld für die Versorgung von Frau und Kindern brauchen, sich als fanatische Informatiker für die Berechnung von Drohneneinsätzen begeistern oder wie Paul schlicht auf der Flucht vor sich selbst sind. Das reale Grauen des Krieges – die Zerstörung, die Toten und Verwundeten – scheint in Pauls Tagebuch nur beiläufig auf, in knappen Bemerkungen, so knapp, dass man sie fast überliest und immer wieder zurückblättern muss, um zu begreifen, was da gerade zwischen Vogelbeobachtungen und Landschaftsbeschreibungen gestanden hat. Das ganze Ausmaß des Schreckens erschließt sich erst in den Reaktionen der Soldaten im Camp, die einer nach dem anderen und jeder auf seine Weise verrückt werden.

Norbert Scheuer hat einen Roman vorgelegt, der auf leise, poetische und gerade deshalb ungeheuer wirkungsvolle Weise, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne politische Schlagworte und ohne jeden Rekurs auf Bellizismus oder Pazifismus, der gegenwärtigen medialen Militarisierung der Außenpolitik eine Wahrheit entgegensetzt, die zum Nachdenken zwingt. Und was die Sprache der Vögel damit zu tun hat, das wird jeder, der das Buch liest, am Ende für sich selbst entscheiden müssen – und können.

Irmgard Hölscher, Frankfurt