Zur Autorin/Zum Autor:
Samuel D. Kassow wurde 1946 in Stuttgart geboren. Er hat in Hartford, London und Princeton studiert und ist Professor für osteuropäische Geschichte am Trinity College in Hartford, Connecticut.
»Was wir nicht in die Welt hinausrufen und -schreien konnten, haben wir vergraben.« Im September 1946 wird in den Trümmern des ehemaligen Warschauer Ghettos ein Schatz gehoben, der kurz vor der großen Aussiedlung nach Treblinka in aller Eile vergraben wurde: etwa 10 Blechkisten und Milchkannen, darin die geheimen Tagebücher, Fotos, Reportagen und in letzter Minute hingeworfenen Testamente und Bitten der eingesperrten jüdischen Bevölkerung. Das Untergrundarchiv Emanuel Ringelblums. Dies ist seine Geschichte.
Das hier war einmal die Nowolipki Straße im ehemaligen Warschauer Ghetto. Und das dort das Haus Nr. 68, in dem vor dem Krieg die Ber-Borochov-Schule untergebracht war, eine säkuläre jiddische Grundschule.
Die Männer und Frauen gehen mit ihren Schaufeln äußerst behutsam vor. Manche benutzen lange Metallstangen, mit denen sie zwischen Mauerresten und Trümmern stochern. Es sind nur Wenige übrig geblieben, die wissen, wo sie nach dem Oyneg-Shabes-Archiv suchen müssen. Es ist der 18. September 1946. Etwa vier Jahre zuvor, an einem heißen Juliabend, als die große Aussiedlung ins Vernichtungslager Treblinka unmittelbar bevorstand, vergrub der Initiator des Untergrundarchivs, der polnisch-jüdische Historiker Emanuel Ringelblum, der maßgeblich am Warschauer Aufstand beteiligt war, gemeinsam mit einer Handvoll Eingeweihter etwa 20 wasserdichte Blechkisten und Milchkannen im Keller der ehemaligen Grundschule. Darin verstaut waren unzählige geheime Dokumente, Tagebücher, Gedichte, Testamente, Erinnerungen, Reportagen, Erzählungen und Fotografien. Er selbst nannte das Archiv die Legende. »Ringelbaum glaubte, dass das Archiv, indem es die Katastrophe historisierte und individualisierte, künftigen Generationen helfen würde, zu erkennen, dass man einen Völkermord nur wirklich begreifen kann, wenn man erfährt und sich bewusst macht, was und wer vernichtet wurde.« Emanuel Ringelblum hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einen Keil unter das Rad der Geschichte zu klemmen, er wollte verhindern, dass die Nachwelt allein aus einer Perspektive auf die Geschehnisse zurückblickt, er wollte das Jetzt einfrieren, das Vergessen überwinden, indem er seine Mitmenschen dazu anhielt, »aus dem Inneren der Geschehnisse« zu berichten. Zurück zum 18. September. Einer der Männer stößt mit seiner Schaufel auf etwas Festes, kurz darauf wird die erste Blechkiste geborgen. Am Ende werden es insgesamt zehn Behältnisse sein, die wenigsten unversehrt. Ringelblum selbst hat diesen Tag nicht mehr erlebt, er wurde 1944 mit seiner Frau, dem kleinen Sohn und anderen Untergetauchten in seinem Versteck aufgestöbert und einige Tage später im Warschauer Pawiak-Gefängnis von Gestapoleuten erschossen. In seinem Buch Ringelblums Vermächtnis beschäftigt sich der Geschichtsprofessor und Autor Samuel D. Kassow nicht allein mit der Geschichte des Untergrundarchivs sowie der Biografie Ringelblums, er schildert auch gleichzeitig das jüdische Alltagsleben in Warschau, das Verhältnis zwischen Juden und Polen vor und während des Krieges. Ein in seiner Gesamtheit und Lesbarkeit einzigartiges Werk, welches in keiner Bibliothek zu dem Thema fehlen sollte. Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln