Zum Buch:
Der 16. Juni 1904 geht in die Literaturgeschichte ein. Auf gut 1000 Seiten beschreibt der irische Autor James Joyce diesen Tag im Leben seines Protagonisten Leopold Bloom. Außergewöhnliches erlebt sein Held nicht unbedingt. Es ist das literarische Verfahren des Autors, dass diesen Tag so besonders macht. Joyce führt den „Bewusstseinsstrom“ als Technik ein. Wir dringen in das Denken des Protagonisten ein, das keinesfalls linear oder immer gut verständlich, geschweige denn moralisch ist.
Ein Sonntag im Spätherbst 2017 könnte in die Geschichte des Comics eingehen. Auf gut 500 Seiten beschreibt der belgische Comicautor Olivier Schrauwen 16 Stunden im Leben seines Protagonisten Thibault Schrauwen. Man ist geneigt zu sagen: sein Held erlebt noch weniger als Bloom. Der Autor, so seine Behauptung, beschreibt einen „verschwendeten Tag“ seines Cousins. Das gelingt ihm auf eine dermaßen eindringliche Art, dass man nach der Lektüre tatsächlich etwas pathetisch von einem „Leseerlebnis“ sprechen kann.
Thibault lebt in einer belgischen Kleinstadt. An diesem Sonntag soll seine Freundin Migali aus Afrika zurückkommen. Wie steht es um die Beziehung? Liebt sie ihn noch? Was soll er mit dem Tag tun? Ein Buch lesen? Seine Zehennägel schneiden? Einen Job erledigen? Aufräumen? Oder doch besser Bier trinken und eine Whatsapp an ein alte Affäre schreiben?
Schrauwen beschreibt dieses fortwährende Zögern, Zaudern und Aufschieben minutiös, aus einer nicht zu sicheren Distanz. Verschränkt mit diesem Protokoll einer Prokrastination sehen wir andere Akteure und Akteurinnen aus Thibaults Umgebung. Nach und nach bewegen sie sich auf ihn zu. Zufällig hat er am nächsten Tag Geburtstag. Um Mitternacht laufen die Stränge dann zusammen.
Schrauwen verwendet für die Beschreibung dieses Tages die Mittel des Comics. Er durchdringt und nutzt dabei die Möglichkeiten der Gattung in einem Ausmaß, dass einem als Vergleich nur Chris Ware einfällt. Die Farbe (im Stil des Risoprint-Verfahrens), die Typologien (also die Schrift), das Layout, der Einsatz filmischer Mittel (Parallelmontage), die Verwendung von Leitmotiven (z.B. der Song Sex Machine von James Brown) verbinden sich zu einem Sog – der sich im Übrigen leicht lesen lässt und überhaupt nichts Prätentiöses hat. Darin besteht die Wucht dieses grafischen Romans: man mag den Helden nicht und erkennt sich doch immer wieder in ihm.
Jakob Hoffmann, Fankfurt a. M.