Zum Buch:
Marta Barone erfährt nach dem Tod ihres Vaters Leonardo zufällig, dass ihr eigentlich unauffälliger Vater vor ihrer Geburt fest in der ArbeiterInnenbewegung Turins verankert war und ihm sogar Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wurde. Von diesen Erkenntnissen tief bewegt, macht sich Marta Barone auf die Suche nach dem jungen Mann, der ihr Vater gewesen ist, und zeichnet dabei eine empathische Biographie ihres Vaters nach, ihre persönlichen Suche nach seinem Leben und auch eine Chronik der aufwühlenden linken Bewegung der 1970er und folgenden Jahrzehnte in Norditalien.
Die Autorin beginnt den autofiktionalen Roman mit ihrer eigenen Geburt. Eigentlich abwegig, geht es doch in erster Linie um das Leben ihres Vaters. Aber es passt, denn als LeserInnen folgen wir Marta Barone auf ihrer Rekonstruktion seines Lebens. Langsam wird aus der zunächst vagen Suche nach Informationen eine systematische Recherche mit der großen Frage: Wer war der Vater, wie lässt sich der glühend leidenschaftliche junge Mann mit dem unnahbaren, zurückgezogenen Vater zusammenbringen, den Marta Barone kennengelernt hat? Der Roman bleibt sehr nahe an diesem Suchprozess, ihren Gesprächen mit seinen alten FreundInnen und MitstreiterInnen, den Puzzleteilen, die sich Stück für Stück zusammensetzen, bis aus dem jungen Leonardo Barone langsam mehr wird als der eigene Vater: der Protagonist L.B.
Der Roman wechselt fließend die Ebenen zwischen Marta Barones Suche und ihren Erinnerungen auf der einen und der Entwicklung L.B.s auf der anderen Seite. Die große Stärke liegt dabei in der Intimität, mit der die Autorin ihre Auseinandersetzung erzählt, und der ebenso großen Empathie und Zärtlichkeit, aber auch Schonungslosigkeit, mit der sie das Leben L.B.s schildert. Dabei taucht sie ein und lässt die LeserInnen eintauchen in die Gedanken und das Erleben L.B.s, sein Charisma, seine Hoffnungen und den Idealismus, die ihn in die ArbeiterInnenbewegung führten, in maoistische Parteisekten, in die kämpferischen Jahre des italienischen Operaismus und in die zahllosen Arbeits- und sozialen Kämpfe, mit denen sich die ArbeiterInnen ein menschenwürdiges Leben erringen wollten. In die Höhenflüge, Ambivalenzen, Verirrungen und tiefe Niederlagen dieser politischen Linken in den anni di piombio, den bleiernen Jahren Italiens, in denen sich Repression und politische Gewalt schließlich gegenseitig hochschaukelten, bis letztere in blinden Terrorismus abglitt.
Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand ist autofiktional erzählt, aber mit wissenschaftlicher Akribie recherchiert. Ohne dass die fesselnde Erzählung darunter leidet, schildert Barone jedes nachvollziehbare Detail der linken Bewegung und des Lebens L.B.s und füllt auf Grundlage dieses Gerüsts die Lücken aus. Damit ist das Buch auch dokumentarisch – aber es bleibt ein Roman, der vor allem von der emotionalen Nähe der Autorin zu dem Protagonisten L.B. lebt.
Henryk Joost, Frankfurt am Main