Zum Buch:
Ausgangspunkt des mit dem Prix Goncourt prämierten Romans der französischen Autorin Brigitte Giraud ist der erzwungene Verkauf des Hauses, das die Ich-Erzählerin vor über 20 Jahren gemeinsam mit ihrem Mann gekauft hatte, in das sie dann jedoch alleine mit ihrem kleinen Sohn einziehen musste. Als Fixpunkt, den die Erzählerin über Jahrzehnte nicht aus den Augen gelassen zu haben scheint, stellt sich der 22. Juni 1999 heraus, der Tag, an dem ihr Mann Claude bei einem Unfall mit einem geliehenen Motorrad ums Leben kam.
Nach einem einführenden Prolog, in dem die Erzählerin auf das Haus blickt, dessen Verkauf ihr wie ein Verrat an ihrer Vergangenheit erscheint, beginnt sie in einer zutiefst persönlichen Introspektion, dreiundzwanzig alltägliche und für sich genommen unauffällige Details der Wochen und Tage vor dem 22. Juni zu rekonstruieren. Wird sich nach so vielen Jahren doch noch etwas finden, das erklären könnte, warum das Drama damals seinen Gang nahm? Ein Detail, das endlich zur Erlösung führen kann?
„Wenn ich die Wohnung nicht hätte verkaufen wollen.“ „Wenn ich zugestimmt hätte, dass unser Sohn mit meinem Bruder in die Ferien geht.“ „Wenn es geregnet hätte.“ „Wenn Claude, bevor er das Büro verließ, Don’t Panic von Coldplay gehört hätte und nicht Dirge von Death in Vegas.“
Wie in einer endlosen Zeitschleife werden Augenblicke aus dem Jahr 1999 seziert, Gespräche interpretiert, Entscheidungen bereut, Gründe für die irreversible Zäsur im Leben gesucht – und natürlich nicht gefunden. Das Leid und die Verzweiflung einer Frau, die die Liebe ihres Lebens und den Vater ihres Sohnes an einem sommerlichen Nachmittag aus für sie unverständlichen Gründen auf einer Straße in Lyon verlor, gehen mit jeder weiteren Frage auf die Lesenden über.
Neben all den Details eines individuellen Familiendramas zeichnet Giraud auch ein zeitgeschichtliches Bild vom Frankreich Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, als es ein Zeichen des Klassenaufstiegs war, wenn man vom Stadtrand Lyons in die Innenstadt zog, als es fast noch kein Internet gab und nur einige wenige schon mit überdimensionierten Handys herumliefen. Als man sich keine SMS schrieb, um Verabredungen zu verschieben, und als man in Bibliotheken gehen musste, um zu recherchieren, dass ein übermotorisiertes Motorrad in seinem Herkunftsland Japan zwar verboten, in Europa jedoch für den normalen Betrieb auf der Straße zugelassen war.
Schnell leben liest sich wie eine atemlose, verzweifelte Suche und entwickelt einen enormen rhythmischen Sog. Fast meint man, einer der hinterfragten Augenblicke könne den Unfall doch noch ungeschehen machen. Das vergebliche Aufbäumen eines Menschen gegen sein Schicksal wird von Brigitte Giraud im hier empfohlenen Roman aus sehr persönlicher Perspektive meisterhaft beschrieben.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt