Zum Buch:
Es ist Winter im Ruhrgebiet. Noch dazu Corona-Winter. Kein guter Zeitpunkt für Hanna, Anfang 40, Lehrerin, um zurückzukommen aus der großen Stadt in die Enge der Wohnung der Großeltern, in der sie aufgewachsen ist. Aber man kann es sich nicht immer aussuchen im Leben. Die Großmutter war krank, Hanna musste sich kümmern. Und nach dem Tod der alten Frau schafft sie den Absprung nicht. Verlässt ihren Liebhaber, kündigt ihre Stelle, findet eine neue, pandemiebedingt mit Online-Unterricht. Lähmende Einsamkeit liegt über der heruntergekommenen, grauen, winterkalten Stadt. Aber Hanna ist nicht nur deshalb einsam. Bei ihren Joggingrunden, beim Einkaufen, im Bus, überall meint sie, ihre Kindheitsfreundin Zeyna zu sehen, wiederzuerkennen, nur um festzustellen, dass sie sich getäuscht hat. Denn Zeyna ist aus ihrem Leben verschwunden, hat den Kontakt abgebrochen, entzieht sich allen Versuchen, sie zu finden. Aber Hanna braucht sie, um sich zu erinnern – an ihr gemeinsames Leben, ihre Geschichte. „Was ist ein Leben wert, wenn niemand sich mit dir erinnert?“
Und so erfahren wir, nach und nach, ihre Geschichte. Die Geschichte von Hanna, deren Mutter starb, als sie drei Jahre alt war, und die bei ihren liebevollen Großeltern aufwuchs, die Geschichte von Zeyna, die mit ihrem Vater aus dem Libanonkrieg geflohen war und deren Mutter im Krieg umkam, und die Geschichte von Cem, dem Sohn der Besitzer des türkischen Lebensmittelgeschäfts im Ort. Die Großeltern nehmen Zeyna und ihren Vater in ihre Familie auf; die beiden Mädchen werden zusammen groß, beste Freundinnen. Zeyna ist das Gegenteil der schüchternen Hanna: lebhaft, offen, neugierig. Und Cem, der Schulfreund, ist der Fels in der Brandung. Er beschwichtigt Streitereien, vermittelt, beschützt. Zeynas Vater, Hanna Großeltern, Cems Eltern werden zu einer großen Familie, in deren diversen Räumen alle drei Kinder selbstverständlich zu Hause sind. Ein Idyll? Weit gefehlt. Dafür sorgt die Welt: durch den Verfall der Stadt, den Wegzug der Fabriken, die Arbeitslosigkeit. Das Leben im Ruhrgebiet der späten achtziger und frühen neunziger Jahre ist hart und trostlos, und alle jungen Leute träumen von der großen weiten Welt. Für die drei ist die Welt zunächst dennoch heil, bis sich allmählich Risse auftun. Ein Mordanschlag auf eine türkische Familie in der Nachbarstadt macht Zeyna und Cem klar, dass Hanna ihre Welt nicht versteht, und das versteht Hanna wiederum nicht. Genauso wenig wie sie Zeynas Reaktion – Gelächter – auf die Bilder der einstürzenden Zwillingstürme verstehen kann. Die Folgen der Anschläge – Hakenkreuzschmiereien auf dem Taxi von Zeynas Vater, eingeschlagene Schaufensterscheiben im Geschäft von Cems Eltern, rassistische Anfeindungen auf der Straße – verstören sie, während die beiden anderen damit gerechnet haben. Aber die Freundschaft bleibt, bis etwas geschieht, über das Hanna nicht sprechen kann …
Rasha Khayat schildert ihre Protagonisten und ihre Umgebung so einfühlsam wie liebevoll. Ein Buch über den Wert von Freundschaft und Familienkonstellationen, die sich nicht über Blutsbande definieren müssen, aber auch über das ungewollt Trennende in einer vom Alltagsrassismus geprägten Welt, ein Buch, das traurig und beglückend zugleich ist.
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.