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Der Amri-Komplex

Autor
Moser, Thomas

Der Amri-Komplex

Untertitel
Ein Terroranschlag, zwölf Tote und die Verstrickungen des Staates
Beschreibung

Nachdem am 19. Dezember 2016 ein Sattelschlepper auf einem Berliner Weihnachtsmarkt elf Menschen in den Tod riss und mehrere Dutzend Schwerverletze zurückließ, konnte der Attentäter überraschend schnell ermittelt werden, womit die Theorie des Einzeltäters erneut griff. Da jedoch fünf Jahre später etliche Fragen offen geblieben sind, mehren sich nicht nur Zweifel an der offiziellen Version des Tathergangs, auf erschreckende Weise lassen sich auch Parallelen zum bisher ungeklärten NSU-Komplex erkennen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Westend Verlag, 2021
Seiten
240
Format
Broschiert
ISBN/EAN
978-3-86489-341-4
Preis
18,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Thomas Moser ist freiberuflicher Journalist und Autor, der unter anderem für die ARD und das Online-Magazin “Telepolis” schreibt. Der studierte Politologe, Soziologe und Ethnologe beschäftigte sich in der Vergangenheit mit dem NSU-Prozess und veröffentlichte hierzu die Bücher “Geheimsache NSU” und “Ende der Aufklärung. Die offene Wunde NSU”. In jüngerer Vergangenheit berichtete er über die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zum Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz.

Zum Buch:

Später sollten Zeugen aussagen, das Geräusch hätte einem tiefen Donnergrollen oder der raschen Durchfahrt eines Güterzugs an einem Vorortbahnhof geähnelt, andere wiederum meinten, sie hätten vermutet, in unmittelbarer Nähe sei ein Unfall geschehen und dabei womöglich ein großer Stapel Europaletten umgestürzt. Einig waren sich jedoch alle, dass sie die auf das Lärmen einsetzende Stille am meisten verunsichert hätte.

Doch das, was an diesem Montagabend, dem 19. Dezember 2016, gegen 20 Uhr auf dem Breitscheitplatz in der Mitte Berlins geschah, war kein Unfall. Der 40-Tonnen-Sattelschlepper fuhr mit voller Absicht ungebremst über den Weihnachtsmarkt, der nach dem Wochenende glücklicherweise nicht besonders gut besucht war, und riss auf seinem Weg Christbäume, Lichterketten, Lebkuchenherzen und Menschen mit sich. Elf Besucher starben. Rund siebzig weitere wurden derart schwer verletzt, dass nicht wenige noch heute, fünf Jahre nach dem Anschlag, mit den Spätfolgen zu kämpfen haben. Bei dem zwölften Opfer handelte es sich um den polnischen Fahrer des Lkw, von dem man nach wie vor nicht weiß, ob er womöglich weiteres Unglück vereiteln konnte, indem er dem Attentäter beherzt ins Lenkrad griff.

Der vierundzwanzigjährige, mehrfach wegen verschiedener Delikte verurteilte Tunesier Anis Amri konnte umgehend als Fahrer des Lkw ermittelt werden, da er Brieftasche und Dokumente im Führerhaus zurückließ, womit sogleich die Theorie des Einzeltäters belegt war. Befragt werden konnte der junge Mann nicht: Er wurde vier Tage später im norditalienischen Sesto San Giovanni von einem Polizisten unter bisher nicht genau geklärten Umständen erschossen.

Doch nach bald fünfjähriger Aufklärungsarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und gleich mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen häufen sich Zweifel an den Ermittlungsergebnissen. Begründete Zweifel, wie man hinzufügen muss. Denn wie kann es sein, dass sich vom mutmaßlichen Einzeltäter keinerlei Fingerspuren in der Fahrerkabine befinden, dafür aber von verschiedenen anderen, bisher nicht identifizierten Personen? Warum wurden die Aussagen von gleich mehreren Augenzeugen nicht berücksichtigt, die unabhängig voneinander drei Personen im Fahrzeug gesehen haben wollen? Wer waren diese Männer, wer die Mittäter, Hintermänner? Wie kommt es, dass sämtlicher Schutt –potentielles Beweismaterial – zwei Tage nach dem Attentat ohne kriminaltechnische Untersuchung entsorgt wurde? Und wieso wurde ausgerechnet die 7. Mordkommission, die erst drei Stunden nach dem Anschlag die wesentliche Spurensicherung vornahm, mit Abschluss ihres Berichts aufgelöst, sodass Nachfragen selbst von offizieller Seite heute unmöglich sind?

Der Journalist und Autor Thomas Moser hat in seinem Buch Der Amri-Komplex in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, dass die offizielle Version nicht stimmig sein kann – und belegt seine Zweifel anhand eines profunden Wissens, das auf jahrelanger Recherche beruht und durch Quellenangaben Punkt für Punkt nachzulesen ist. Dass er bei der Masse an Ungereimtheiten ein Versagen der Sicherheitsbehörden in Betracht ziehen muss und unmittelbare Vergleiche zum ungeklärten NSU-Komplex zieht, wundert daher nicht. Die Öffentlichkeit – an vorderster Stelle jedoch die Angehörigen der Opfer – hat ein Recht auf lückenlose Aufklärung, ganz gleich, wie schmerzhaft die Ergebnisse sein mögen. Doch die erneute Mär vom Einzeltäter (bzw. im NSU-Fall dem Einzeltäter-Trio) klingt längst nur noch schal und allzu einfach gestrickt. Die Wahrheit jedoch kennt keine Kompromisse.

Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln